Bewegung macht Kinder schlau oder Warum Hamburg sichere Radschulwege braucht
Stadtstaaten und Großstädte liegen in der Performance der Schüler teilweise mehr als ein Schuljahr hinter Flächenstaaten zurück. Dies hat verschiedene Ursachen. Zu nennen sind etwa der unterschiedliche soziale Mix, unterschiedliche Kulturen, unterschiedliche Schulsysteme, längere Schulwege durch Schulzusammenlegungen. Wenig Beachtung findet der unterschiedliche Mobilitätsradius der Kinder.
Laut einer Untersuchung des Deutschen Mobilitätspanels legten im Zeitraum von 1996 bis 2000 noch 61,8 Prozent der Schüler ihre Alltagswege mit dem Rad zurück, im Zeitraum 2006 bis 2010 waren es noch 55,2 Prozent. Lt. einer repräsentativen Umfrage des Forsa-Instituts aus dem Jahr 2014 fahren bundesweit noch 19% der Schüler mit dem Rad zur Schule. Der kindliche Mobilitätsradius schmilzt schneller als die Eisscholle im Klimawandel und das besonders in den Großstädten.
Die Entwicklung der kindlichen Motorik, für die ein kindgerechter, fehlertoleranter Mobilitätsraum die Voraussetzung ist, geht Hand in Hand mit der kognitiven Entwicklung.
Bei weitem nicht nur, aber auch für z.B. mathematische Fähigkeiten sind die motorische Entwicklung und motorisches Training von konstituierender und fördernder Bedeutung. Bewegung schult Lateralität (Rechts/Links-Bewusstsein und Rechts/Links-Integration), Raum-Lage Bewusstsein (Wo befinden sich mein Körper und seine Glieder im Verhätnis zueinander und im Verhältnis zur Umgebung?), Gleichgewichtssinn, Auge-Hand Koordination, Geschwindigkeitseinschätzung und Praxie (sinnhafte und organisierte Handlungsplanung/Handlungsabläufe). Von ganz besonderer Bedeutung für das Ausschöpfen kindlicher geistiger und körperlicher Entwicklungspotentiale ist die Förderung der motorischen Integration (motorisches Zusammenspiel), der sensorischen Integration (Zusammenspiel der Sinne) und die Förderung der sensomotorischen Integration durch anspruchsvolle Bewegung.
Motorische Defizite ziehen häufig Gesundheitsprobleme wie Adipositas, ADHS (Aufmerksamkeits-Defizitsyndrom, auch Zappelphilippsyndrom) und ernsthafte kognitive Lernschwierigkeiten nach sich. Diese Defizite werden von nicht wenigen Pädagogen als mitursächlich für unbefriedigende Schulkarrieren angesehen.
Sichere Radschulwege sind ein geeigneter und ein natürlicher Weg, den Mobilitätsradius der Kinder zu vergrößern, ihre motorischen Fähigkeiten sowie die kognitive Entwicklung der Kinder zu fördern und damit auch ihre (Aus-) Bildungschancen zu erhöhen.
Eine Groß-Studie aus Kopenhagen zeigt, dass Kinder, die ihren Schulweg selbstständig bewältigen, noch bis 11 Uhr bei Konzentrationstests besser abschnitten. Aus den Testergebnissen konnte mit einer Trefferquote von 75% vorhergesagt werden, ob das Kind seinen Schulweg selbstständig absolviert hatte.
Lehrer kennen das Problem:
Kinder, die nach dem Wecken und Abfüttern vom Elternteil vor der Schule aus dem Auto gehoben werden und, noch halb schlafend, dem Lehrpersonal übergeben werden.
Zum Wachwerden (Tonusaufbau) werden dann zwangsläufig starke Reize benötigt, etwa in Form von scheinbar unmotivierten Streit mit Mitschülern/Lehrern anfangen, Blödsinn machen etc. – zum Schaden nicht nur der eigenen Aufmerksamkeit sondern besonders zum Schaden der Unterrichtsatmosphäre der gesamten Klasse.
Dagegen das Kind, das seinen Schulweg eigenverantwortlich meistert (Voraussetzung: Fehlertolerante Infrastruktur).
Besonders durch die körperliche Tätigkeit Radfahren hat es seinen Tonusaufbau schon geleistet. Körper und Kopf sind gut durchblutet und so optimal auf das Erbringen geistiger Leistungen eingestellt.
Vielleicht am wichtigsten: Das Kind kommt in einem pädagogisch und lernpsychologisch besonders wertvollen Modus in der Schule an: Im Modus der Eigenverantwortlichkeit. Und es durfte sich “auszappeln”.
Der Modus der Eigenverantwortlichkeit für den Schulweg wird oft ganz selbstverständlich auf eine Eigen- oder Mitverantwortlichkeit auch für den eigenen und sogar für den Lernprozess der Klasse übertragen.
Denn diesen Kindern fällt es leichter, Verantwortung für sich und den Unterricht zu übernehmen. Sie lernen nicht für die Schule oder für den Lehrer, sondern für sich.
Hamburg
Leider macht die rot-grüne Regierung in Hamburg keinerlei Anstalten, die Mobilität der Kinder in Hamburg zu verbessern. Im Gegenteil.
Im Koalitionsvertrag heißt es (S.36):
“Das Radwegenetz wird saniert. Wo möglich und sinnvoll sollen Radfahrstreifen und Schutzstreifen für Radfahrerinnen und Radfahrer angelegt werden. …
Nicht mehr benötigte Radwege werden zugunsten der Fußwege im Rahmen von Instandhaltung zurückgebaut.”
SPD und Grüne setzen auf Mischverkehr und auf Mischverkehr light, die Rad- oder Schutzstreifen.
Die Doyenne der Verkehrspsychologie der Kinder Prof Maria Limbourg im Fazit ihres Vortrags “Überforderte Kinder im Strassenverkehr” auf dem Verkehrsgerichtstag Goslar, 1998:
“Kinder als Radfahrer:
Das Verhalten von Kindern als Radfahrer ist bis zum Alter von ca. 8 Jahren so defizitär, daß eine Teilnahme am Straßenverkehr nicht zu empfehlen ist. Zwischen 8 und 14 Jahren entwickeln sich die erforderlichen Fertigkeiten, und es kommt zu einer Verbesserung des Radfahrverhaltens. Mit ca. 14 Jahren sind die Fähigkeiten zum sicheren Radfahren vollständig entwickelt.
Durch geeignete Trainingsprogramme läßt sich die Verkehrssicherheit von Kindern als Fußgänger und Radfahrer erhöhen, es bleibt aber immer ein beachtliches Restrisiko, da sich auch „trainierte” Kinder hin und wieder ablenken lassen, um dann (doch) ohne sich umzusehen plötzlich auf die Fahrbahn zu laufen oder unerwartet mit ihrem Fahrrad auf der Fahrbahn „aufzutauchen” (vgl. LIMBOURG, 1995). Der „Ablenkbarkeit” kommt in Zusammenhang mit kindlichen Verkehrsunfällen eine große Bedeutung zu. Kinder können zwar „einsichtig” sein, aber nur dann, wenn sie die gefährliche Situation auch beachten, d.h. wenn sie ihre Aufmerksamkeit auf diese Situation richten. Und diese Fähigkeit ist erst mit ca. 14 Jahren vollständig entwickelt. Vorher lassen sich Kinder immer wieder „ablenken”. “
Regelhafter Mischverkehr/Radstreifen schließt die 10-14jährigen Schulkinder, d.h. die Alterskohorte, in der Radfahren am verbreitetsten ist und in der die Basis für das Mobilitätsverhalten im Erwachsenenalter gelegt wird, welches später an die eigenen Kinder weiter gegeben wird, vom Radverkehr aus.
Diese kinderfeindliche Politik trifft nicht nur Schüler. Sie trifft auch Eltern und besonders sozial schwache Eltern und Alleinerziehende. Sie trifft sie da, wo es ihnen besonders wehtut. An ihrem engen Zeit- und Geldbudget. Gerade sozial schwache, alleinerziehende und berufstätige Eltern sind in hohem Maß auf Zeit- und Kosteneffizienz angewiesen und damit auf fehlertolerante und vor dem Kfz-Verkehr geschützte Radinfrastruktur.
Liebe rot-grüne Verkehrspolitiker: Bildungs- und familienfreundliche Verkehrspolitik sieht anders aus.