Aufhebung der Benutzungspflicht. Irrtum oder Populismus.

Dieses Thema schiebe ich schon sehr lange vor mir her. Der Grund: Es ist sehr tabubehaftet und muss deshalb gründlich durchdacht werden.

Andererseits: Die intellektuelle Ehrlichkeit gebietet es, sich auch mit (vielleicht zu Unrecht?) tabuisierten Themen auseinanderzusetzen. Schließlich, was kann schon passieren? Entweder: Das Tabu findet eine hinreichende Begründung, dann war die Auseinandersetzung gut. Oder: Das Tabu entpuppt sich als  Denkverbot, um eine notwendige Diskussion zu verhindern. Dann war die Auseinandersetzung auch gut.

Shortread:

1. Historisch

Eine Alltags-Radkultur hat den Tsunami der Automobilisierung nur in den Ländern überlebt, in denen es eine Benutzungspflicht gab; nämlich in Deutschland, Dänemark und Niederlande.
Die urbane Verkehrswende in NL und DK hätte ohne diese nicht in die Sport- bzw Spielecke abgedrängte Alltags- Fahrradkultur, von der sie ihren Ausgang nahm, nicht stattfinden können.

2. Finanzierung von Radinfrastruktur

Die Ben.Pflicht beinhaltet das Recht auf vor dem Kfz-Verkehr geschützte Radinfra. Denn wenn ich etwas benutzen muss, dann muss es bereit gestellt werden. Damit haben Kommunen und Verkehrsämter die Bereitstellungspflicht: Radinfra muss finanziert und gebaut werden.
Ohne Ben.pflicht fehlt, verwaltungsrechtlich gesprochen, der Bedarf.

3. Politisch

Die Benutzungspflicht erlaubt es, alle Akteure, nämlich , Männer, Frauen, Eltern, Kinder, Kommunen, Fußgänger, Autofahrer, die strong & fearless, die enthused & confident, die interested but concerned in die Kampagne für besseren Radverkehr einzubeziehen.
Niemand wird ausgeschlossen. Der Radverkehr wird nicht gespalten.

Die Ben.pflicht scheint eine notwendige, wenngleich noch nicht hinreichende Bedingung für eine Verkehrswende zu sein.
Denn hinreichend ist erst die gute Radinfrastruktur. Die Benutzungspflicht stellt, das wissen wir aus schlechter erfahrung, nur die längst nicht hinreichende Basisversion sicher.

Die vom damaligen CDU-Verkehrsminister und jetzigen Vorsitzenden des Verbandes der  Automobilindustrie, Wissmann, 1997 ins Werk gesetzte  Aufhebung der Radwegebenutzungspflicht wurde in Radaktivistenkreisen begeistert und kritiklos aufgenommen. Besonders die höchstrichterliche Durchsetzung der wissmannschen StVO-Änderung durch das Bundesverwaltungsgericht Leipzig fand breiten Anklang beim ADFC (“bahnbrechendes Urteil“).

Wie sieht die Praxis aus? Zum Beispiel so:

Artikel im HA vom 07.01.16: Verkehrsbehörde lässt Radfahren auf Straße zu. (Lesesperre.Überschrift googeln.)

Aus dem Artikel:

Das Problem: Viele der Wege, auf die Radfahrer bislang gezwungen wurden, sind sanierungsbedürftig oder haben gar nicht die gesetzlich vorgeschriebene Breite. Genau das stellte nun auch die Verkehrsbehörde bei der Vorortbesichtigung fest….Beispielsweise sei der Radweg entlang der Halstenbeker Chaussee zu schmal und weise Asphaltaufbrüche auf. Deshalb sollen Radfahrer durch eine Absenkung des Bordsteins auf Höhe der Kreuzung Waterhorn auf die Fahrbahn gelenkt werden. Unsichere Fahrer dürfen aber auf dem Radweg bleiben.

Weil die Radwege zu schmal und kaputt sind, sollen die Radfahrer auf die Fahrbahn. Ausgerechnet “unsichere” Radler werden auf die kaputten Wege verwiesen, gemeint sind Senioren, Kinder und alle, die sich nicht dem Kfz-Verkehr aussetzen wollen.

“Radweg” in Berlin. Benutzungspflicht aufgehoben. “Darf” noch von “unsichern” Radlern benutzt werden. Besonders Senioren unterliegen einem hohen “Alleinunfall”-Risiko, das mit zunehmendem Alter eine erhöhte Mortalität nach sich zieht. Bild: Das andere BMV

Dies ist der Haupteffekt der Aufhebung der Benutzungspflicht. Radwege werden, soweit nicht gänzlich zurückgebaut (was auch Geld kostet), zu den Sparbüchsen der Kommunen.


Zum Zusammenhang der hohen Quote der “Alleinunfälle” im Radverkehr und mangelhafter Infrastruktur ist wenig Forschung zu finden.

In der Kleinen Anfrage der Grünen Verbesserung der Verkehrssicherheit im Radverkehr vom 30.07.2014 heißt es unter 9.:

Welche Schlüsse zieht die Bundesregierung aus der auffällig hohen Quote sogenannter Alleinunfälle im Radverkehr in Bezug auf die Infrastrukturqualität (…  z.B. Oberflächenbeschaffenheit, unzureichende Breite und Radien der Radwege, Sichtbeziehungen, mangelhafter oder kein Winterdienst auf Radwegen)?

Um die Dimension zu verdeutlichen: Nach destatis Zweiradunfälle im Straßenverkehr 2014 (PDF 1.8, S. 15) starben 2014 von insgesamt 396 Radlern 100 bei Alleinunfällen. “Unsichere” Radler, gemeint sind die nicht Vollfitten und Reaktionschnellen, auf halsbrecherische und unterdimensionierte Radwege zu schicken, das erhöht die Verkehrssicherheit nicht.


Den Kommunen und den Ländern ist dabei noch nicht einmal ein Vorwurf zu machen. Sie können zumeist gar nicht anders. Schon die rechtlich verankerte kommunale Pflicht zur Daseinsfürsorge (Strom, Wasser, Schulen, Straßen, H4 etc) lässt sich oft nur auf Pump finanzieren. Die wissmansche StVO-Änderung (Fahrzeuge, dazu zählen auch Fahrräder, fahren auf der Fahrbahn) hat die Radwege aus der Grundsicherung rausgekickt. Selbst wenn der politische Wille vorhanden wäre, die Kommunen dürften oft die Radwege gar nicht reparieren bzw ausbauen: Erst die Pflicht und dann – wenn noch Geld übrig ist –  die Kür. Der Erhöhung der Lebensqualität  der Kommunen leidet am meisten. Sie werden gerade für oft bitter benötigte leistungs- und finanzstarke junge Familien und in der Folge auch für Firmen unattraktiv.

Leuten fahr mit dem Rad auf eine ebene, breite Radweg in Kopenhagen.

Recht auf Infrastruktur. Benutzungspflichtiger Radweg in Kopenhagen. Gute Radwege brauchen Benutzungspflicht. Bild: Das andere BMV

Geht man der Sache auf den Grund, dann wird  klar:
Eine Pflicht zu etwas setzt das Recht dazu voraus. Die Pflicht, einen Radweg zu benutzen setzt das Recht auf einen Radweg voraus. Die Aufhebung der Ben.pflicht bedeutet  eine Entrechtlichung der Radfahrer, denn ihnen wird gleichzeitig das Recht auf geschützte Radinfra genommen.

Es ist kein Zufall, dass es in Ländern, wo der Radverkehr boomt und relativ gesehen am sichersten ist, eine Radwegebenutzungspflicht gibt, so in Dänemark und den Niederlanden.

 

 

Der Slogan des ADFC

Gute Radwege brauchen keine Benutzungspflicht

zeugt von einem tiefen Unverständnis verwaltungsrechtlicher und kommunalpolitischer Abläufe. Entweder das – oder er ist übler, betrügerischer Populismus.

Die Wahrheit ist,  das zeigen die Beispiele in Dk und den Niederlanden ebenso wie die umgekehrte Entwicklung in Deutschland:

Ohne Benutzungspflicht und das ihr innewohnende Recht auf vernünftige Radinfrastruktur sind gute Radwege nicht zu haben.

Offenbar ist die Radwegebenutzungspflicht eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung für eine erfolgreiche Verkehrswende. Der öffentliche Druck, der jedoch längst vorhanden ist, muss als hinreichende Bedingung hinzukommen.

Notwendig ist sie offenbar, weil sie es erlaubt, die ganze Bevölkerung, Radfahrer, Autofahrer, Stadtbewohner, Jung und Alt, Mann und Frau in die Verkehrswende einzubeziehen und sie dafür zu mobilisieren, da mit Benutzungspflicht die Vorteile einer geschützten Radinfrastruktur und des Rechts darauf für alle auf der Hand liegen.

Die Aufhebung der Ben.pflicht hatte gewiss großen Anteil daran, dass Wissmann den Spitzenjob als Vorsitzender des Verbandes der deutschen Automobilindustrie gekriegt hat.
Immerhin hat er die Autoindustrie in Zeiten höchster Gefahr (die Beispiele Dk und NL flammten schon als Menetekel an der Wand) ganz cool ausgerechnet mit Hilfe des ADFC vor einem Desaster in ihrem Lead Market Deutschland bewahrt.
Wer die Konkurrenz so listig und nachhaltig aus dem Feld schlägt, der ist zu Höherem berufen.

 

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4 Responses to Aufhebung der Benutzungspflicht. Irrtum oder Populismus.

  1. stefanoverkamp says:

    Was ist mit den Unfallstatistiken? Die meisten schweren Unfälle gibt es beim Abbiegen mit Radfahrern im Seitenraum.

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    • Hallo.
      Ich scrolle hier grad noch mal durch.
      Unfallstatistiken bilden das doch sehr komplexe Verkehrsgeschehen nur sehr unzureichend ab. Es ist sehr schwierig, aus ihnen Schlüsse zu ziehen.

      Die der Kfz-Industrie nahestehende, grundsätzlich gegen Radwege eintretende UdV hat eine ziemlich aufwändige Studie ‘udv.de / FB / 21 / Abbiegeunfälle Pkw/Lkw und Fahrrad’ mit externen Wissenschaftlern in Auftrag gegeben und 07/2013 veröffentlicht.

      Click to access fb_21_ab_pkw_rf.pdf

      Ich zitiere:
      “5.6. Präferierte Radführungsformen
      Für die untersuchten Radführungsformen [Hochbord, Radstreifen, Mischverkehr] war kein Unterschied im objektiven Risiko (Konfliktrate) nachweisbar.”

      Der Unterschied im objektiven Risiko ist vielmehr aus dem Radverkehrsanteil der untersuchten Städte ersichtlich. Dort, wo ein vor dem Kfz-Verkehr baulich geschütztes Radwegenetz zum Radeln einlädt, dort sind die Unfallzahlen hoch signifikant niedriger. So weist Münster eine um mehr als 50% niedrigere Konfliktrate auf als die Vergleichsstädte:

      Münster Konfliktrate 5,8% / UKR 27,6
      Magdeb. Konfliktrate 11,5%/ UKR 33,9
      Darmst. Konfliktrate 13,9%/ UKR 39,1
      Erfurt Konfliktrate 13,2%/ UKR 72,1

      UKR: Unfallkostenrate. Die Konfliktrate ist sehr hoch signifikant mit dem tatsächlichen Unfallgeschiehen korreliert.

      Sprich: In Münster mit seinen vielen Radwegen ist der Radler mehr als doppelt so sicher vor den gefährlichen Abbiegeunfällen wie in den 3 Vergleichsstädten. Und obendrein ist die Unfallkostenrate, d.h. die Schäden für die Radfahrer, in Münster 40% unter dem Schnitt.
      Dies deckt sich mit den Erfahrungen weltweit.

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    • Ulrich Lamm says:

      Die in UdV 21 errechneten Unfallraten und Unfallkostenraten sind für die Tonne, da man nur Knoten berücksichtigt hat, an denen sich tatsächlich Unfälle ereignet haben, und die gleichartig gestalteten unfallfreien Knoten unberücksichtigt gelassen hat.
      Ich bin die Studie sehr genau durchgegangen, siehe http://www.radweit.de/_politik/udv21ana.html
      UdV hat tendenziell das Zielergebnis, richtlinienkonforme Radwege und den Autoverkehr wenig beeinträchtigende Radverkehrsführungen seien das sicherste.
      Sicherheitsvorteile des Mischverkehrs wurden bei den Abbiegeunfällen weggerechnet.

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  2. Ulrich Lamm says:

    Radwegebenutzungspflicht ermöglicht den Behörden gezielte Benachteiligungen des Radverkehrs, von denen auch die Niederlande nicht frei sind.
    Radwegebenutzungspflicht reserviert den zumeist besten Teil der Straße Leuten, die eine rücksichtslose Verkehsmittelwahl getroffen haben.
    Große Teile des Lastentransports und manche Serviceleistungen, auch große Teile des ÖPNV, lassen sich nur mit KFZ bewältigen.
    Die dafür benötigte Infrastruktur gleichermaßen für den Radverkehr zu nutzen, ist unter dem Gesichtspunkt des Flächenverbrauchs ökologisch geboten.
    100%ige Trennung von Autoverkehr und Radverkehr macht die Welt für Radler klein und eng.

    Radwegebenutzungspflicht ist Apartheid im Straßenverkehr.
    Die Aufhebung der Benutzungspflicht ist weder Irrtum noch Populismus.
    Sie wird aber leider unzureichend kommuniziert, weil ganz viele Leute Interesse an der Privilegierung des Autoverkehrs haben.

    Polemik gegen die Aufhebung der Benutzungspflicht ist wie Polemik gegen die Menschenrechte.

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